Als Intro schon mal vorab: ich spinne gerne
herum, male mir Dinge aus, rede von Phänomen, die völlig banal sind und stelle
mir vor, ich wäre jemand anders. Wenn man wie ich, in so einer beschaulichen
Stadt wie Marburg wohnt, hat man dazu jede Menge Gelegenheit. In dieser Stadt,
in der jede vierte Person studiert und fast jeder zweite etwas mit Uni zu tun
hat, scheint es einen nicht groß zu verwundern, dass man im Laufe von fast
vier Jahren nicht nur ein gewissen Repertoire an Orten, sondern auch an
Menschen, kennt. Und wenn ich hier kennen schreibe, meine ich damit eigentlich
nicht kennen! Ich rede hier von Menschen mit denen man kein Wort tauscht,
vielleicht mal Hallo sagt oder nett lächelt, aber dies dann auch schon die
Highlights waren! Alles was wir über diese Art von Menschen wissen, beruht allein auf ihre Erscheinung, die wiederum mit den Orten verknüpft ist –
vielleicht noch mit den Menschen, die sie umgeben - an denen wir sie treffen. Daraus
kann man dann ganz wunderbare – meist völlig spekulative - Schlüsse ziehen. Ihr Lieblingsessen ist Döner, ihr Geschmack ist eher bieder, ihre Haarfarbe ein Versehen, ihr Freund
ein BWLer. Treffen wir diese Menschen fast täglich, glauben wir – auch wenn wir
noch nie ein Wort miteinander wechselten – diese Schlüsse zu einem großen
Ganzen zusammen puzzeln zu können und zu wissen mit wem wir es, zu tun haben. Ein
kleines schüchternes Mädchen dass von allen geliebt werden will, dass auf Diät ist, aber nicht genug
Sport macht und zu viel Eis isst, dass ihren Freund Pakete tragen lässt, aber nur, damit er sich gebraucht fühlt, oder so ähnlich. Wir sehen, was wir glauben. Isst
die Nachbarin mit Hund ein Eis auf dem Heimweg, glauben wir zu wissen, dass sie
einen Hund hat und gerne Eis isst. Das ist jedenfalls die kurze und einfache Schlussfolgerung! Einige dieser unbekannten-bekannten Gesichter treffen wir so häufig, dass wir
entweder denken, dass sie uns – auf Grund von Ort und Zeitübereinstimmung –
besonders ähnlich sind, die gleichen Vorlieben und den gleichen Geschmack
haben, dass dies so etwas wie ein Kleinstadtphänomen sei, oder tippen auf
Zufall und Schicksal. Manchmal wird es sogar so bizarr, dass wir auf unbekannte-bekannte
Gesichter treffen, die uns ganz stark an Menschen erinnern, die wir wirklich zu kennen glauben. Dass wir sie verwechseln oder zumindest zwei Mal hin schauen
müssen um einzusehen, dass es sich um so etwas wie eine optische oder
charakteristische Täuschung handelt. Keine Frage, so was ist irgendwie unheimlich!
Die Chance das eine Person erstes einer anderen zum verwechseln ähnlich
aussieht, zweitens sich ähnlich verhält und sich drittens auch noch am gleichen
Ort aufhält wie wir, nimmt uns zunächst einmal die Illusion, wir wären einzigartig.
Hinzu kommt das diffuse Gefühl, etwas würde nicht stimmen oder als
hätte das alles eine tiefere – vielleicht auch ganz andere - Bedeutung. Kein
Wunder also, dass Doppelgänger in der Romantik und klassischen Literatur meist mit dem Verlust der
eigenen Identität assoziiert wurden. Vermutlich gibt es auch Menschen, die so
was völlig kalt lässt. Vermutlich gibt es Menschen, die über so etwas erst gar nicht nachdenken! Aber man ahnt es bereits, zu diesen gehöre ich nicht. Wenn
ich durch die Straßen Marburgs laufe und einen meiner bekannten Unbekannten
treffe, frage ich mich, wer diese Menschen sind. Statt sie zu fragen „äh hallo
wer bist du?“. Stelle ich mir vor, ich sei sie und würde mich treffen. Würde ich mir - als anderes Ich - auffallen? Würde ich mich auch fragen, wer diese bekannte Unbekannte ist, die verwirrt durch die Oberstadt schlendert? Wenn ich einen vermeintlichen Doppelgänger sehe, stelle mir vor, wie diese doppelten Menschen leben und wieso sie den Menschen, die ich kenne, so ähneln. Ist das eine Frage der Perspektive und Wahrnehmung oder geht das auch anderen so? Projizieren wir
einfach automatisch so viel Vertrautes auf Fremde Menschen, dass es nicht mehr
auffällt, dass sie in Wirklichkeit ganz anders sind? Ja, so ein Rollentausch zwischen Ahrens und Markplatz stellt so einiges Kino auf den Kopf. Dass man keine dieser Fragen je wirklich beantworten kann, ist dabei völlig unrelevant! Noch tückischer wird es dann
nur noch mit virtuellen Gesichtern und Profilen, die zwar von realen Menschen
erstellt wurden, aber die einem kaum das Gegenüber liefern können, dass man hat
wenn man jemanden tatsächlich in die Augen schaut. Trotzdem unterhalten sich
unsere elektronischen Doppelgänger miteinander, tauschen Gedanken, Worte und
Bilder miteinander. Das sowie so andauernde Kommunikationsproblem nimmt – so jedenfalls
der Verdacht - mit der Zunahme an virtuellen
Sphären und elektronischen Vertretern des eigenen Selbst zu. Die Frage wo und
wie man mit wem wann spricht, scheint immer ungeklärter. Schreibt man eine
Mail, eine Nachricht (bei Whatsapp oder eine SMS?), schreibt oder kommentiert
man ein Profil (bei Facebook, Xing oder Instagramm? Und handelt es sich dabei
um ein Fake-Profil oder ein echtes?) oder sollte man lieber direkt anrufen (Festnetz
oder Handy? Welche Nummer ist die aktuelle?)? Wen hat man dann an der anderen Empfängerseite
sitzen? Die Mitbewohnerin, den Freund, die Mutter oder einen Hacker? Wird der nicht
genau ermittelbare Empfänger die Mitteilung sofort lesen, wird sie gestört oder
gibt es ein Übertragungsproblem? Kein Empfang, kein Akku, kein Guthaben? Oder wird
sie einfach bewusst nicht gelesen, es wird aufgelegt oder etwas abgestellt? Kennen
wir diese Menschen wirklich so gut wie wir glauben und hätten wir uns
eigentlich nicht etwas ganz anderes erwartet? Die zahlreichen Möglichkeiten,
Optionen und Enttäuschungen werden also zum reinsten Massaker eines gut
funktionierenden - bereits leicht verwirrten - Geistes! Kommen dann noch Emotionen
ins Spiel - welche die Nachricht beinhaltet, der Sender sendet oder der
Empfänger empfängt, kann dies – unter Umständen und wer würde es nicht
verstehen – zu einem katastrophalen Ausmaß führen. Kommen wir also wieder zum
Ursprungsgedanken, den der fremden – aber doch irgendwie bekannten – Menschen. Spinnen
wir das Szenario weiter und zu stellen uns vor, sie einfach anzusprechen. Ihnen
in die Augen zu sehen und sie kennen zu lernen. Vielleicht wäre das irgendwie
langweilig, vielleicht auch enttäuschend, aber zumindest gäbe es dann keine
Übertragungsfehler.