Mittwoch, 12. August 2015

Schön bunt und fröhlich vor sich hin konsumieren




Wir fahren 1,5 Stunden mit dem Zug und dann noch mal fast 5 Stunden mit dem Auto, bis wir dann kurz vor dem Ziel - direkt vor dem Eingang ins viel umwobene Wunderland – zum Stehen kommen. Wir stehen ganze 4 Stunden bis wir im Nieselregen endlich unser Zelt aufbauen können. Eine der vielen Druffi-Bühnen beschallt vor allem unser Zelt stelle ich mit nüchternem Blick fest, so dass wir, wenn wir uns hinlegen, fast ein bisschen von alleine tänzeln. Aber das macht nichts, denn ich hatte ja beschlossen, mich von nun an einfach drauf einzulassen und mit dem Rumpampen endlich aufzuhören. Ich hatte mich gut vorbereitet und ein paar Stunden vor Abfahrt sogar noch einmal ein paar Einpack-Listen gelesen. Ich hatte sogar ein Erste-Hilfe-Set besorgt! Darüber machen wir jetzt natürliche alle paar Minuten Scherze. Jeder würde Scherze machen, wenn er sechs Stunden in einem Auto voller fünf Menschen und voller fünf Festivalmonturen gequetscht wäre. Da macht man nur noch Scherze und versucht damit seine Gliedmaßen bei Laune zu halten! 

Alleine während der vierstündigen Wartezeit auf dem Rollfeld hat sich mein komplettes Kippenkonsum des bisherigen Jahres verzehnfacht, unseren halben Proviant für die kommenden 3 Tage aufgefressen und alle fünf Minuten nach einer Umarmung gebettelt. Aber macht nichts, denn meine liebevoll bemalt und verzierten Fingernägel machen sich in der verwirrenden bunten Welt besonders gut und auch meine Leo-Gummistiefel scheinen genau die richtige Wahl gewesen zu sein. Auch die ersten Dixi-Erlebnisse gestalten sich weitaus weniger traumatisch als angenommen, es gibt sogar Klopapier! Und meine Augenringe und Fetthaare sind schon allein deshalb weniger schockierend, weil es fast nirgendwo Spiegel gibt. Als ich dann am nächsten Morgen im stinkenden Zelt aufwache, ist es mir tatsächlich fast egal, dass der übrig gebliebene Restproviant als Frühstück einfach nur ekelhaft schmeckt. Bis ich dann merke, dass „alle anderen“ die feinsten Bioprodukte auspacken und ich für allein für Müsli einen schiefen Blick beim Einkauf geerntet hatte, während Mann weiter Würste in den Einkaufswagen legte. Aber egal, denn das gibt ja vielleicht ein paar Extra-Umarmungen und Mitleidsküsse. Um vier Uhr mittags laufe ich statt geküsst „mutterseelenallein“ und ohne jegliche Form von Mitleid über das Gelände, dass am Tag tatsächlich viel weniger romantisch und viel mülliger aussieht als nachts. Ich laufe planlos aber immer gegen die Masse an, was ich im Hinblick auf die Massenwanderungen Richtung Mini-See für wirklich mutig halte. Heute war ich schon gefühlte 10 Mal auf irgendwelchen „Toiletten“, für die ich locker den halben Tag anstehen musste. Und dann nicht mal scheißen konnte! Als ich irgendwann müde und voller Kloimpressionen an meinem Zelt ankomme, ist mein Zelt abschlossen. Weil wir ja sicher sein wollten. Also lege ich mich elegant in zwei der luxeriösen Campingstühle und stelle mich tot bis ein Dealer vorbei schneit und mir LSD, MDMA und Grass verkaufen will. Während mein Zeltnachbar aus seinem Zelt kommt und eine Ladung Pillen kauft, schüttele ich meinen blonden Fett-Kopf zufrieden in der Abendsonne. Als irgendwann wieder alle unter unserem Pavillon versammelt sind, es ein paar Bindfäden regnet und wir über die nächsten hunderttausend Acts sprechen die anstehen, fühlt es sich ein bisschen so an, als wäre die von den Veranstaltern beabsichtigte Parallelwelt geglückt. So als wären wir alle ein glückselig vor sich hinkonsumierendes Volk, dass niemals jemanden Schaden zufügen wird. Trotzdem liegt überall Müll. Trotzdem stinkt die Scheiße von uns in den Dixiklos Kilometer weit. Aber das macht nichts, denn wir haben uns. Und den Alkohol. Und die Zigaretten und ein bisschen Gras. Was braucht es mehr? 

Um kurz vor zwölf stehe ich vor einem Act dessen Name ich schon wieder vergessen habe in der bunten glitzernden Menge und verziehe schmerzerfüllt mein Gesicht. Mein Rücken tut so weh, dass ich weder stehen noch gehen kann, aber Liegen in dieser Masse irgendwie auch wegfällt. Ich leide so lange still vor mich hin, bis mir irgendwann Tränen über die Wangen fließen und ich gequält ins Zelt schleiche. Vorher mache ich noch einen Abstecher auf dem „WC-Royal“ - auf dem es Kloschüssel, Waschbecken und Spiegel gibt – und betrachte mein 25. Jähriges Ich. Es sieht Scheiße aus und kommt kaum mehr von der Kloschlüssel hoch. 

Am nächsten Morgen wache ich vor lauter Tief-Schlaf-Phasen motiviert auf und denke: „Macht nichts, ich habe ja noch Magnesium-Vitamin-C-Vitamin-B-Tabletten“. Außerdem ist heute endlich unser Proviant alle und wir können unser Geld endlich in richtiges Essen investieren. Also konsumieren wir alles war nicht teurer als 5 Euro, vegan und super fröhlich ist. Mein Bauch wächst dabei kontinuierlich und parallel zu den WC- und Dixi-Klo-Schlangen. Die Versöhnung dieser Schlange-steh-Kultur finde ich der Gemeinschaft unterm Pavillon, dem Bindfäden nichts abkönnen und unter dem sowohl Äppler, als auch Rum viel besser schmecken. Die Laune ist solange ekstatisch bis plötzlich alle Kippen alle sind! Und der Tabak! Und nirgendwo kann man neues kaufen! Als dann noch alle wo anders hin wollen scheint die Gruppendynamik Eskalation-gefährdet. Aber macht nichts, denn ich befinde mich in einem Zustand heiterer bis unnatürlicher Gelassenheit und tanze mit allem mit. Um Punkt 3 ist dieser Zauber, so plötzlich er gekommen war, wieder vorbei. Verwirrt schlurfe ich über das Gelände und frage mich nach dem Sinn des Massenphänomens, das speziell sein will. Das anders sein will, alternativ und glitzernd, aber trotzdem die Masse tanzen lässt. Tag und Nacht. Die Sehnsucht nach einer bunten, fröhlichen Welt, bei der trotzdem an Flüchtlinge, Umwelt und Unterdrückte gedacht werden soll, erscheint mir zunehmend absurder. Die Schilder an den Zelten, auf denen nach Drogen gebettelt werden, zeigen viel eher ein Bild, dass sich nicht gerade nach Realitätssinn sehnt. Aber macht ja nichts! 

Als am letzten Morgen Menschen Müll suchend durch die Gegend schleichen und ich genervt das Zelt abbaue, weil ich Zelte insgeheim schon immer gehasst habe und die Sonne auf unsere quadratischen Köpfe prallt, freue ich mich verstohlen auf mein Bett. Bis zu diesem spießig aber wohligen Zustand werden noch Stunden vergehen. Wir stehen in der prallen Sonne und zur Aufheiterung macht Mann mit mir Rätselspiele. Ich fühle mich wie zehn. Bis nach Potsdam brauchen wir drei Stunden. Als wir in der vermeintlichen Zivilisation – an der nächsten Raststätte – ankommen, ist die Klo-Schlange schon wieder Kilometer lang. FestivallantInnen und RenterInnen drängeln, fluchen und machen sich gegenseitig für das Dilemma verantwortlich. Wir fressen alles was über 5 Euro kostet und ungesund aussieht, während die Männer  immer noch an die Zäune pissen. Als wir trotzdem noch völlig ausgehungert und Ideal-verratend bei Mc Donald halten und 30 Minuten auf unseren Fraß warten müssen, fließt mir ein wenig der Zusammenreiß-Schweiß von der Stirn. „Ich wollte mich ja darauf einlassen, aber jetzt will ich es nicht mehr.“ pampe ich, meinen Burger fressend rum. Niemand registriert das, alle essen schweigend weiter. „macht ja nichts“ murmele ich vor mich hin, während mir plötzlich liebevoll über meinen 4-Tage nicht gewaschenen Kopf gestrichen wird "wir sind ja bald zuhause." Ich fühle mich wie zehn und verhalte mich auch so. Zaghaft zuversichtlich schaue ich auf meine bunten Fingernägeln, die immer noch fröhlich im Abendlicht glitzern. Sie haben nichts abbekommen.

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Festival-Verarbeitungsmaßnahmen als Blog-Aktivierung und rasante Berg- und Talfahrt und viel BLA-BLA-BLA.